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02.07.2000
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Wer zweimal verliert, gewinnt

Parrondos Paradox: Verwirrend für Laien, einsichtig für Mathematiker, aber leider unbrauchbar für Spieler

VON JOACHIM LAUKENMANN

Adelaide - Fühlen Sie sich manchmal als geborener Verlierer? Kopf hoch! Ein spanischer Physiker hat bewiesen, dass doppelter Verlust zu Gewinn verhelfen kann. Von Mathematikern wird dieses Phänomen, das jeglicher Intuition widerspricht, als Parrondos Paradox bezeichnet - benannt nach Juan Parrondo von der Universität Complutense in Madrid, der es 1997 entdeckte.
Australische Wissenschaftler haben das Paradox nun mit Hilfe einer Computersimulation bestätigt; zugleich zeichnen sich Anwendungen ab: Mit Hilfe des Modells liessen sich womöglich Investmentstrategien erstellen - oder gar erklären, wie sich Leben auf der Erde entwickelte.
Um das Wesen seines mathematischen Mechanismus zu veranschaulichen, hat Forscher Parrondo ein Szenario aus zwei Wurfspielen mit insgesamt drei Münzen erfunden, die auf einer Seite schwerer sind und deshalb mit unterschiedlich grosser Wahrscheinlichkeit auf die «Siegesseite» fallen. In Spiel A wirft ein Spieler - nennen wir ihn Peter - die Münze eins, bei der die Siegchance ein wenig kleiner ist als 50 Prozent. Gewinnt Peter, erhält er einen Franken, verliert er, muss er einen Franken an seine Mitspielerin Heidi abgeben. Nach einer Reihe von Würfen landet Peter erwartungsgemäss auf der Verliererstrasse.
Spiel B ist hingegen komplizierter. Hier wirft Peter die Münzen Nummer zwei und drei. Münze zwei hat eine Gewinnchance von rund 75 Prozent; Münze drei führt jedoch in etwa neun von zehn Fällen zu Verlust. Peter wechselt nun die beiden Münzen nach einer schlichten Regel ab: Immer wenn die Gesamtzahl seiner verfügbaren Münzen - das Spielkapital also - ein Vielfaches von drei beträgt, nimmt er die «verlustreiche» Münze drei. Da dieser Fall vergleichsweise selten eintritt, bedeutet das: Peter wirft häufiger die Gewinn bringende Münze zwei. Verlieren wird er auf Dauer gesehen trotzdem, denn Münze drei mit rund 90 Prozent Verlustrisiko wiegt die guten Chancen von Münze zwei mehr als auf.
Treiben Spiel A und B Peter also in die Pleite? Keineswegs! «Jedes Spiel für sich genommen ist zwar ein Verlustspiel», sagt Juan Parrondo, «das Verblüffende ist aber, dass ein Wechsel zwischen beiden Spielen zum Sieg führt.» Ein rätselhafter Effekt, der mathematisch allerdings bewiesen ist.
Um dieses Paradox zu verstehen, nutzt man das Bild einer so genannten Rätsche. Solche Bauteile mit schiefen «Sägezähnen» finden sich zum Beispiel im Zahnräderwerk von Armbanduhren, die sich selbst durch Bewegung aufziehen, oder im Gestell von Hebebühnen. Ein Schnapper, der zwischen diese Zähne greift, lässt eine Bewegung der Rätsche in eine Richtung zu, blockiert sie aber in der Gegenrichtung.
Bei Parrondos Paradox geht es strenggenommen um eine «pulsierende Rätsche»: ein System, mit dem sich beispielsweise Biologen den Transport von Molekülen in einer Zelle erklären. Die Zähne dieser speziellen Rätsche klappen periodisch ein und aus - wie bei einer Treppe, deren Stufen wechselweise «da» sind und dann wieder nicht. Ein Tennisball würde in beiden Fällen - schiefe Ebene oder eben Treppe - jeweils abwärts rollen. Bei einem Wechsel zwischen beiden Zuständen würde er jedoch gewissermassen nach oben «massiert».
Auch ohne einen Nachbau dieser Treppe darf man Parrondos Paradox Glauben schenken: Die Forscher Gregory Harmer und Derek Abbott von der Universität Adelaide in Australien haben das Münzwurf-Spiel kürzlich am Computer simuliert. Resultat: Bei 50 000 Durchgängen fanden sie exakt das vom spanischen Wissenschaftler vorhergesagte Ergebnis. Mehr noch: Selbst wenn Spiel A und Spiel B nicht in stetem Wechsel, sondern in zufälliger Reihenfolge gespielt werden, schreiben die beiden Forscher im Wissenschaftsmagazin «Nature», «werfen sie dennoch Gewinn ab.»
Verwirrend für Laien, einsichtig für Mathematiker. Derweil sucht Juan Parrondo nach Situationen, in denen sein Paradox tatsächlich auftritt. Fündig wurde er bereits in der Chaosforschung: Er verformte geometrische Muster, zum Beispiel Bienenwaben, nach einer bestimmten Vorgabe bis zur Unkenntlichkeit - und kombinierte dann die Regeln zur Verformung neu. Ergebnis: Aus zwei chaotischen Mustern entstand wiederum ein regelmässiges Mosaik.

Forscher suchen nach praktischen Anwendungen für den Effekt

Dieses Phänomen könnte etwa in der Evolutionstheorie nützen, meint Parrondo: «Komplexe Strukturen wie Lebewesen könnten durch wechselnde Umweltbedingungen wie Tag/Nacht oder Sommer/Winter entstanden sein.» Molekulare Rätschen könnten, so der Physiker, damit das Leben in seiner Evolution zu grösserer Komplexität unterstützen.
Andere Wissenschaftler suchen mittlerweile nach praktischen Anwendungen des Effektes. Zum Beispiel Sergei Maslow, Physiker am Brookhaven National Laboratory in New York: Er analysiert Investmentstrategien. Zwei oder mehr verlustträchtige Aktien, so fand er heraus, können durch den «Rätschen-Effekt» zu einem Gewinnfonds kombiniert werden. Fazit: «Das Ganze ist manchmal mehr als die Summe seiner Teile.»
Um Maslows Modell an der Börse anwenden zu können, ist es allerdings zu stark vereinfacht. Ähnliches gilt für andere Anwendungen des Prinzips: Bei echten Glückspielen tritt Parondos Paradox niemals auf - leider.



 

Die Spieltheorie hilft, einen Entscheid zu fällen
Die Spieltheorie untersucht, wie Menschen oder Organisationen sich unter bestimmten Bedingungen verhalten und entscheiden. Ein klassisches Beispiel ist das so genannte Gefangenendilemma: Zwei Inhaftierte werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben, die maximal fünf Jahre Freiheitsstrafe nach sich zieht.
Der Richter trägt nun jedem der beiden mehrere Alternativen vor. Erstens: Wenn du deinen Partner belastest, kommst du ohne Strafe davon, und er muss die vollen 5 Jahre absitzen. Zweitens: Schweigt ihr beide, liegen genügend Indizienbeweise vor, um jeden von euch zu zwei Jahren Haft zu verurteilen. Drittens: Wenn ihr beide gesteht, müsst ihr vier Jahre hinter Gittern verbringen.
Wie werden sich die Gefangenen entscheiden? In der Spieltheorie wird nun eine so genannte Payoff-Matrix aufgestellt: eine Tabelle, in der sämtliche Entscheidungsmöglichkeiten der Gefangenen eingetragen und mit Punkten bewertet sind. Je höher die Punktzahl, desto vorteilhafter das Verhalten für den Gefangenen. Anwenden lässt sich dieses Verfahren vor allem auf komplexe Konfliktsituationen. So wurde die Spieltheorie bei einer Reihe von Konfrontationen im Kalten Krieg eingesetzt, um etwa die Reaktion der Sowjetunion während der Kubakrise von 1962 zu beurteilen.
Eine spezielle Variante solcher Analysen sind so genannte 2-Personen-Nullsummenspiele, bei denen ein Gegner gewinnt, was der andere verliert - wie zum Beispiel bei Parrondos Paradox.